Texte

1.*Beziehungsanarchie
Martin
Version 4, Freilassungsdatum 14.08.2007
. . . fur jeden Deckel einen Topf
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Ist es nicht eigentlich komisch, daß einerseits f ̈r jeden Topf ein Deckel“ da sein soll, und gleichzeitig alle immer nach den jeweils genau richtigen Partnerpersonen suchen? Wenn es kein h ̈heres Wesen gibt, daß die passende Paarung steuert, dann kann es gar nicht aufgehen. Dann kann der Traum von der Traumpartnerperson nur f ̈r ein paar wenige funktionieren, und meistens nicht f ̈r beide Partnerpersonen gleichzeitig. Es muß also eine ganze Menge Unzufriedener, nicht passend Gepaarter, und eine ganze Menge Ungepaarter geben. Wer’s nicht glaubt der oder die sehe sich mal um. . .
Und alles nur, weil (fast) alle nach diesem normativen Liebesgl ̈ck“ suchen? Weil wir uns, und unsere Umwelt uns, und unsere Eltern uns, und unsere Medien uns einreden, es g ̈be dieses Ideal der idealen Idealpaarbeziehung. Und zwar f ̈r jeden und jede.
Damit nicht genug, erleben dann auch diejenigen, die alle Regeln des Gl ̈cks befolgen, sich zu regelgerechten zweigeschlechtlichen (Reproduktions-)Paaren zusammen finden, zusammen schlafen fr ̈hst ̈cken urlaubmachen fernsehen abendsweg- und spazierengehen (meistens aber nicht: abwaschen kloputzen
essenkochen kuchenbacken) einen Haufen Unzufriedenheit. Mißverst ̈ndnisse. Warum ist das so? Und vor allem: muß das so sein? Also los:
Vom Podest zum Prufstand

So eine Paarbeziehung soll etwas ganz besonderes sein. Eine ganz besondere Person darf in deinem Leben den Platz der Partnerperson einnehmen. Diesen besonderen Platz, diesen Podest auf den eine Partnerperson erhoben wird, gibt es aber bei genauerem Hinsehen unabh ̈ngig von der Person, die ihn einnimmt. Damit wird die Person austauschbar: sobald die Beziehung zerbricht, ist der Platz noch
da; mensch kann sich also gleich auf die Suche nach einer Ersatz-person begeben, die dann ihrerseits diesen besonderen Platz einnimmt. Wie besonders sind dann eigentlich noch die Personen? M ̈ßte und k ̈nnte es nicht f ̈r jede Person eine jeweils eigene Form von Beziehung geben?
Außerdem gilt immer ganz oder gar nicht. Eine Person ist gerade deine Partnerperson, oder sie ist es nicht. Alles dazwischen ist mehr oder weniger unm ̈glich. Deshalb wird auch st ̈ndig gepr ̈ft: paßt die Person denn wirklich als ganzes zu deinen Erwartungen? Der besondere Status des Zusammenseins ist
eben deshalb, weil er besonders ist, auch gef ̈hrdet. Mensch steht als ganze Person auf dem Pr ̈fstand.
Sobald auch nur einzelne Dinge nicht mehr ins Beziehungsbild der Partnerperson passen, ger ̈t die Beziehung in Gefahr. Besonders krass: Dinge die nicht passieren, oder Dinge die außerhalb der Beziehung passieren und mit der betreffenden Beziehung selbst damit nichts zu tun haben, k ̈nnen der Anlaß sein, die Beziehung als ganzes zu beenden.
Weil die meisten Menschen selbst dann und wann pr ̈fend und zweifelnd auf die Partnerperson schauen, erwarten sie, ebenso unterschwellig gepr ̈ft zu werden. Weil aber die Beziehung als ganze, und nicht nur Teilaspekte davon, in Gefahr gerieten, ist mensch zu Kompromissen bereit. Im Extremfall sogar zu solchen, die nicht explizit ausgehandelt werden. Anders als zum Beispiel in normalen Freundesbeziehungen ist mensch bereit, f ̈r die Partnerbeziehungen Opfer zu erbringen, womit die Beziehung
ungewollt zu einem negativen Element werden kann.
Ein Nichts zu bekr ̈ftigen Eben weil mensch schon von sich selbst weiß, daß nicht alles echt“ ist, sondern manches der Beziehung
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wegen als Kompromiss eingegangen wird, erwartet mensch das auch bei der Partnerperson. Vielleicht liebt dich die Partnerperson ja gar nicht (mehr)? Um sicherzugehen, werden unterschwellig Bekr ̈ftigungen verlangt. Positiv ausgedr ̈ckt: Bekr ̈ftigungen, die zeigen sollen, daß die Partnerperson dich noch liebt. Negativ ausgedr ̈ckt: Bekr ̈ftigungen, deren Ausbleiben bedeuten k ̈nnte, daß die Person
dich nicht mehr liebt. Zum Beispiel H ̈ndchenhalten, K ̈ßchen beim Weggehen und Wiederkommen oder angedeutete K ̈sse am Ende von Telefonaten, Briefen, SMSen. Um eine Bekr ̈ftigung zu erhalten, kann mensch zum Beispiel selbst eine Bekr ̈ftigung anbringen (sagen Ich liebe dich!“ und dann warten, ob und wie die Partnerperson reagiert. . . ). Es entsteht also leicht ein Hin- und Her von Bekr ̈ftigungen, die dadurch ihren positiven Gehalt schnell verlieren: wenn du weißt, daß deine Bekr ̈ftigungen manchmal nur erfolgen, um (Fehl)reaktionen der Partnerperson zu vermeiden, h ̈lst du das auch beiden Bekr ̈ftigungen der Partnerperson f ̈r m ̈glich – und die Inflation ist perfekt.
Richtige Liebe verlangt Leiden. . . . Oder was ist deine Liebe wert, wenn deine Partnerperson nicht bereit ist, etwas zum Wohle der Beziehung zu opfern? Ob du nun direkt oder indirekt von der Partnerperson den Verzicht auf etwas anderes verlangst, oder selbst demonstrativ auf etwas verzichtest, der Beziehung
wegen, so tendieren derartige Opferhandlungen dazu, unn ̈tiges Leiden, unn ̈tige Opfer, unn ̈tiges Ungl ̈ck zu schaffen.
Wir lieben uns genau gleich doll. . .
Wenn zwei Menschen eine Partnerbeziehung eingehen (ob sie sich nun bewußt diesen Status geben oder nur so verhalten, ist dabei eigentlich egal), haben beide schlagartig und bestimmt im Wesentlichen unbewußt ein Paket von Erwartungen an die Beziehung im Kopf. Die im Wesentlichen aus dem Kino und dergleichen kopierten Ubereink ̈nfte werden gew ̈hnlich weder ausgesprochen noch sicht bewußt gemacht. Egal was Inhalt solcher Ubereink ̈nfte ist (und sei es uber alles reden k ̈nnen“), w ̈rde ein Brechen mit nur einer davon die ganze Beziehung in Gefahr bringen. Eben deshalb wird dadurch immer ein bestimmtes Gebiet abgesteckt, uber das mensch eben nicht reden kann innerhalb der Beziehung.
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Mensch wird also eingeengt zwischen verschweigen und not“l ̈gen einerseits und Beziehung gef ̈hrde andererseits. Zuviel sich versprochener N ̈he kann die Beziehung zu einem negativen Element machen, bei konkreten pers ̈nlichen Entscheidungen ( Wenn du mich liebst, gehst du heute abend nicht zu deinen Saufkumpels. . .“). Mensch verpaßt die Chance, sich stets mit Respekt und trotz Offenheit
auch Abstand zu begegnen.
Erwartungen an die Beziehungen werden im Laufe der Zeit leicht zu Anspr ̈chen. Mensch meint, gewisse Rechte“ zu haben, nun, da mensch zusammen ist. Zum Beispiel ein Recht darauf, einen großen Teil der Zeit der Partnerperson in Anspruch nehmen zu k ̈nnen. Ein alleiniges (oder, zum Beispiel innerhalb der Poly-Bewegung, mit wenigen anderen geteiltes) Recht auf k ̈rperliche N ̈he zur Partnerperson. Anstatt mit verschiedenen Menschen verschiedene Ebenen und Tiefen von Beziehung ausleben zu k ̈nnen, schreiben uns die Ubereinkommen einer Partnerbeziehung vor, alle unsere verschiedenen Bed ̈rfnisse nach N ̈he auf allen Ebenen mit eben der einen Partnerperson zu teilen. Weil außerdem
jeder Topf einen Deckel braucht, entsteht wieder die paradoxe Lage, sich gleichzeitig auf genau eine Person festlegen zu m ̈ssen, die gleichzeitig die Traumpartnerperson sein muß (und mit der zusammen die ganzen romantischen Sonnenunterg ̈nge am Meer verbracht werden m ̈ssen, wie das im Kino auch
funktioniert).
Nur uber alles reden“. . . ?
 – die Idee der Beziehungsanarchie
Vieles geht st ̈ndig schief in den meisten Partnervereinbarungen. Wahrscheinlich gibt es tausende Mißverst ̈ndnisse, allein deshalb, weil wir die sehr engen Kategorien von Intimit ̈t und Partnerschaft so fraglos ubernehmen. Dabei muß das nicht so sein. Mensch kann sich auch bewußt andere Deutungsrahmen setzen, die dann (zum Teil) die vielen unbewußten ersetzen. Der Versuch der Beziehungsanarchie
in diese Richtung ist eigentlich ganz einfach: Die Art und Weise, wie mensch mit Freunden umgeht und uber Freundesbeziehungen denkt auch f ̈r diejenigen Menschen anzuwenden, in die mensch verliebt ist. Das heißt ja nicht, die (besonderen?) Gef ̈hle zu verneinen, sondern nur die Art dar ̈ber zu denken
zu ̈ndern. Ganz einfach:
Gute Freunde werden nicht eifers ̈chtig, weil du andere Freunde hast. Mit anderen Menschen N ̈he zu erleben beteudet nur, daß es dir gut geht. Gute Freunde finden es nicht eigenartig oder gar falsch, daß du mit verschiedenen Freunden verschiedene Umgangsformen hast. Im Gegenteil sorgt das f ̈r mehr Abwechslung, und f ̈r ein l ̈ngeres Halten der Freundschaften. Gute Freunde finden es normal, daß sich
Beziehungen mit der Zeit andern, st ̈rker werden oder an Bedeutung verlieren. Gute Freunde hören nicht auf, deine Freunde zu sein, weil sie nicht deine besten Freunde sind. Schon weil alle Menschen verschieden sind, hat es keinen Sinn, danach zu sortieren, wer einem am n ̈chsten steht. Gute Freunde freuen sich, wenn du interessante Dinge mit anderen Menschen erlebst.
Im Gegensatz zu gew ̈hnlichen Podestpartnerbeziehungen k ̈nnte daraus werden: Anstatt die Partnerbeziehung zum Normalzustand zu machen – mensch hockt die ganze Zeit aufeinander und macht alles zusammen – entscheidet mensch sich jedesmal aufs Neue f ̈reinander. Anstelle der ganz-oder gar-nicht“-Logik des Zusammenseins oder Schlußmachens entscheidet mensch sich in kleinen Portionen
f ̈r oder gegeneinander. Es gibt viel weniger Gr ̈nde, eifers ̈chtig zu werden. Wenn der Umgang miteinander mal anstrengend ist, macht mensch etwas anderes – genau wie mit guten Freunden. Mensch opfert sich nicht auf und h ̈rt auf, sich gegen Dinge zu entscheiden, die mensch eigentlich mag, nur um der Beziehung willen“. Mensch nimmt die Beziehung als solche nicht als gegeben hin. Niemensch”hat irgendwelche Rechte“ oder Pflichten“. Mensch begegnet einander stets respektvoll.
Wer darauf Lust hat, kann es ja mal versuchen. Aber vorsicht: ganz so einfach ist es dann doch nicht! Nat ̈rlich ist es leicht, wieder in die eintrainierten Muster zur ̈ckzufallen, zumal die neuen Bewertungskategorien jedesmal bewußt anstelle der unbewußten plaziert werden m ̈ssen. Ein paar
Wegweiser:
•Nimm das positive wahr wenn sich f ̈r dich entschieden wird, und denke nicht so sehr uber das negative nach, wenn es nicht so ist.
•Gib nicht um zu Bekommen. Das gilt zum Beispiel f ̈r Bekr ̈ftigungen, die oft nur der erhofften Gegenreaktion wegen gegeben werden. Das macht es nur leicht, entt ̈uscht zu werden.
•Wenn du das Gef ̈hl hast, zu wenig zu bekommen, oder weniger als du gibst, ist es keine gute L ̈sung, Aufmerksamkeit einzufordern. Dann weißt du noch weniger als vorher, ob es nun echt“ ”ist oder nicht.
•Gehe davon aus, daß die Beziehung in Ordnung ist. Suche nicht st ̈ndig nach Bekr ̈ftigung deiner ( besonderen“) Position.
•Akkzeptiere, daß sich Beziehungen ver ̈ndern k ̈nnen. Die Alternative w ̈re, gemeinsamen Umgang zu erzwingen. Wenn es soweit kommt, hast du keine Chance mehr zu erkennen, wann dir Liebe freiwillig“ gegeben wird. Und was hat mensch schon von einer unfreiwilligen Liebe. . . ?
Eigentlich steht die Idee der Beziehungsanarchie uberhaupt nicht im Widerspruch zur klassischen Partnerbeziehung. Vielmehr erweitert sie deren sehr enge Kategorien sehr drastisch, so daß die scheinbar so nat ̈rlichen Liebespaarbeziehungen darin nur ein kleiner Spezialfall sind. Das macht die Sache auf eine Art leicht: mensch kann langsam und Schritt f ̈r Schritt einzelne Kategorien aufweichen und hinterfragen, und muß nicht gleich alles auf einmal uber Bord werfen, was immer wieder von den Eltern, der Umgebung, Romanen und Werbetafeln eingetrichtert wird.
Auf der ersten Stufe stehenzubleiben w ̈re dann aber auch schade: Beziehungsanarchie ist eben mehr, als nur uber alles reden“. Heißt n ̈mlich auch: alles verhandelbar machen. Heißt, sich mit Respekt und wo n ̈tig Abstand zu begegnen, und gegenseitig Freir ̈ume zu lassen. Denn nur dann ist wirklich
wertvolle N ̈he uberhaupt m ̈glich. Es ist wichtig, verschließbare Zimmert ̈ren zu haben, selbst dann, wenn mensch sie immerzu sperrangelweit offen l ̈ßt. Denn: Nur dann geht das uberhaupt.
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Hintendran
Wenn es euch interessiert, dann guckt mal auf www.andie.se. Das ist die Webseite von Andie Nordgren
uber relationsanarki“. Allerdings nur auf schwedisch. . . :-)

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